Kommentar: Zum Verständnis des Wortes „exponentielles Verhalten“ während der Coronavirus-Pandemie

Zu Beginn der Coronavirus-Pandemie wurde auf allen Kommunikationskanälen wiederholt erläutert, was ein „exponentielles Verhalten“ ist und was es mit „flatten the curve“ auf sich hat. In meinem Berufsalltag als Physiker ist das Konzept „exponentielles Verhalten“ in vielfältigen Formen präsent, aber natürlich geht es nicht allen Mitmenschen so. Deshalb habe ich mich sehr darüber gefreut, dass die Coronavirus-Pandemie – wenn auch trauriger – Anlass war, dass die Mathematik exponentieller Funktionen auf unterschiedliche Art und Weise in den Medien mal präzise erklärt, mal eindrücklich bildlich veranschaulicht, aber vor allem inhaltlich korrekt dargelegt wurde. Ich hatte dadurch den Eindruck, dass wir in Zeiten der weitreichenden Bedrohung durch COVID-19 in den Medien eine im Vergleich zu den dort sonst herrschenden Zuständen und Artikulationsweisen der letzten Jahre eine erfreulich sachliche und medizinisch-naturwissenschaftlich-mathematischen Erkenntnissen und Denkweisen aufgeschlossene Berichterstattung erleben und dass sich dies auch in den Aussagen der meisten Politiker wiederfindet. Hierzu gehörte neben dem Erklären von exponentiellem Verhalten und epidemiologischen Kennzahlen auch das aufmerksame Zuhören bei den Aussagen und Erläuterungen der aktiven Forscher, Virologen und Epidemiologen. Der sachliche, den aktuellen und teils nur vorläufigen Forschungsstand wissenschaftlich korrekt wiedergebende und dadurch bezüglich endgültiger Schlussfolgerungen manchmal zurückhaltende Podcast von Christian Drosten ist hierbei wohl das prominentestes Beispiel, welcher obendrein einen wie ich finde authentischen Eindruck in wissenschaftliches Vorgehen und Denken bei aktueller Forschung gibt.

Aber diese inhaltlich aufgeschlossenen und in der Denkweise der Aufklärung verpflichteten Zeiten sind im Kontext der Coronavirus-Pandemie leider schon wieder vorbei. In den letzten Tagen hörte man in den Medien immer mehr Aussagen, die inhaltlichen Respekt vor den am Coronavirus SARS-CoV-2, der Erkrankung an COVID-19 oder der entsprechenden Epidemie forschenden Wissenschaftlern vermissen lassen. Und ebenso ergeht es offensichtlich der Exponentialfunktion: In einem weit publizierten Interview des Spiegels mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil sagt dieser: „Wir haben die exponentielle Kurve bei den Infektionen erfolgreich bekämpft, aber stecken jetzt in einer anderen exponentiellen Kurve: Das sind die wachsenden Schäden in Gesellschaft und Wirtschaft.“ Leider sagt er nicht, welche Kenngroße für „gesellschaftliche und wirtschaftliche Schäden“ er damit meint. Ich kann mir aber keine einzige entsprechende Größe vorstellen, die ein exponentielles Wachstum aufweisen sollte. Also befürchte ich, dass das mathematisch präzise definierte Wort „exponentiell“ hier lediglich als bedeutungsschweres Synonym für „stark wachsend“ oder „dramatisch“ verwendet werden soll. Aus meiner Sicht macht dies die gesamten Aufklärungsaktivitäten über die Bedeutung von „exponentiellem Wachstum“ zu Beginn der Coronavirus-Pandemie wieder zunichte.

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