Stuttgarter „Sanctuarium“ (herman de vries) gerodet

Seit der Internationalen Gartenbauausstellung 1993 findet sich in unmittelbarer Nähe des Straßen- und Stauknotenpunktes Pragsattel das „Sanctuarium” von herman de vries. Es handelt sich dabei um einen kreisförmigen, übermannshohen Metallzaun mit vergoldeten Spitzen, der ein Geländestück von gut zehn Meter Durchmesser einfriedet, ohne einen Zugang zum Innenraum zu lassen. Die Intention des Künstlers war es, der Natur im Innenraum des Sanctuariums freien Lauf zu lassen und somit aus einer Rasenfläche – wie sie den Umraum des Sanctuariums bis zu den Hauptverkehrsstraßen darstellt – ein Stück „unbeeinträchtigter Naturentwicklung“ zu schaffen. In den seitdem verstrichenenen 25 Jahren hatte sich aus dem ursprünglich weithin erkennbaren, im Inneren leeren Zaun ein undurchdringliches Grün, einschließlich einiger mittelgroßer Bäume, entwickelt, das so stark aus seiner Eingrenzung drängte, dass man den Zaun kaum noch sehen konnte. Somit hatte sich die Intention des Künstlers also vollends umgesetzt und mit dem Sanctuarium konnten sich jeden Tag Tausende im Stau stehenden Autofahrer Gedanken über das Wechselspiel von Natur und menschlichem Einfluss machen – gerade weil das Sanctuarium in seiner zugewucherten Erscheinung vergleichsweise unscheinbar war, den jahrelangen Pendlern aber auch noch von seiner ursprünglichen Ansicht vertraut war.

 

herman de vries: „Sanctuarium“ (Stuttgart, Pragsattel, 1993; Zustand Juli 2016)

Wie zahlreiche Medien berichten, hat die Stadtverwaltung Stuttgart kurz vor Ostern 2018 die gesamte Innenfläche des Sanctuariums roden lassen. Zwar habe ich es seitdem nicht mit eigenen Augen gesehen, aber die veröffentlichten Bilder sind eindeutig: Von der grünen, wuchernden Natur ist bis auf die im Boden verbliebenen Baumstümpfe und Wurzeln nichts mehr übrig. Der nun wieder unübersehbare Zaun umgrenzt lediglich braune Erde.

Zwar hatte herman de vries stets zugestanden, dass alles Grün, welches aus dem Sanctuarium herauswächst, entfernt werden kann, aber das Innere sollte unberührt bleiben. Offensichtlich war dies den aktiv beteiligten bzw. verantwortlichen Personen im Garten-, Friedhofs- und Forstamt nicht bewusst oder aber es war ihnen egal oder aber sie haben sie bewusst über den künstlerischen Willen hinweggesetzt – möglicherweise wird diese Frage, ob das Kunstwerk hiermit zerstört wurde, sogar noch Gerichte beschäftigen.

Mich erinnert diese Geschichte jedenfalls an die berühmten Anekdoten von der Fettecke von Joseph Beuys und noch mehr an jene von seiner mit Pflastern etc. beklebten kleinen Badewanne, die zur Zweckentfremdung („Getränkekühler“) so sorgfältig gereinigt wurde, dass das Kunstwerk nachher als zerstört galt. (Der von Beuys im Nachgang teilweise rekonstruierte, aktuelle Zustand der Badewanne ist im Lenbachhaus in München zu besichtigen.)

Schade, dass sich die Stadt Stuttgart nun unrühmlich in diese neue Folge von „Ist das Kunst oder kann das weg?“ einreiht und sich somit dem Spott unter Kunstinterssierten (bzw. Journalisten und Autoren) der kommenden Jahre und Jahrzehnte sicher sein kann. Dies umso mehr, da es im Gegensatz zu den Beuys-Zwischenfällen nicht um das Kunst(un)verständnis bzw. den Reinigungseifer einzelner Personen geht, sondern um einen offensichlich umfangreichen und aufwändigen Eingriff von offizieller Seite.

herman de vries: „Sanctuarium“ (Münster, 1997; Zustand August 2017)

Neben dem Stuttgarter Sanctuarium hat herman de Vries auch in anderen Städten solche geschützten Refugien für die Natur geschaffen. Eines befindet sich in Münster, wo es aus Anlass der Skulptur.Projekte 1997 angelegt wurde und nun ebenfalls seit über 20 Jahren grünt und wuchert. Im Gegensatz zur Stuttgarter Version handelt es sich beim Münsteraner Werk um eine kreisförmige, drei Meter hohe Ziegelmauer, in die man lediglich durch einige kreisförmige Öffnungen hineinschauen kann. Auch das Münsteraner Sanctuarium zeigt sich dem Betrachter nicht in idealer Form, denn die Mauern sind über und über mit Graffiti bedeckt, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und somit ein kontemplatives Herangehen für den Betrachter praktisch unmöglich machen. Aber wenigstens herrscht im Inneren des dortigen Sanctuariums die Natur ganz im Sinne des Künstlers.

herman de vries: „die eiche – bonifacius revidiert“ (Düsseldorf, 2002; Zustand Mai 2016)

Im Kontext der Stuttgarter „Rodung“ kam mir außerdem ein ähnlich gestaltetes, aber inhaltlich ganz anders gelagertes Werk von herman de vries in den Sinn: In der Düsseldorfer Innenstadt, auf einer Wiese am Rheinufer, ist „die eiche – bonifacius revidiert“ anzutreffen, mit der Inschrit „wynfrith me caesit – herman me recreavit“ („Wynfrith fällte mich – herman hat mich wiedererschaffen“). Hierbei bezieht sich herman de vries auf die der Sage nach von Bonifatius im 8. Jahrhundert in der Gegend des heutigen Fritzlar gefällte Donareiche. 2002 wurde durch herman de vries die bereits einige Meter hohe Eiche gepflanzt und durch einen Zaun geschützt, der dem des Stuttgarter Sanctuariums ähnelt, aber einen viel kleineren Durchmesser besitzt.

Vielleicht wäre eine solche Anordnung mit „aufgeräumter“ Natur im stattlichen Zaun auch mit der Mentalität der Stuttgarter Grünflächenverwaltung besser vereinbar gewesen als die ungezügelte Entwicklung im Sanctuarium am Pragsattel.

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