Ausstellung: „Marcel Duchamp. 100 Fragen. 100 Antworten.“
Wo: Staatsgalerie Stuttgart
Wann: 23.11.2018 – 10.3.2019
Link: https://www.staatsgalerie.de/ausstellungen/marcel-duchamp.html
Eintritt: 11,50/9,50 € (incl. Sammlung 12,00/10,00 €)
Katalog: Kostet in der Ausstellung 34,90 €, die Version im Buchhandel 49,00 €.
Der Katalog beschreibt die Werke der Stuttgart Duchamp-/Stauffer-Sammlung. Zu den wichtigeren Duchamp-Werken gibt es mehrseitige Essays unterschiedlicher Autoren. Leider sind die wenigen externen Leihgaben der Ausstellung nicht explizit aufgelistet. Aber sonst erscheint mir der Katalog als schön gestaltetes Buch, das dem Duchamp-interessierten Leser reichlich Informationen bietet; so werden etwa sämtliche Bögen der „100 Fragen. 100 Antworten.“ abgedruckt und dazu deutsche Übersetzungen der (französischen) Fragen und Antworten.
Über die Ausstellung:
Marcel Duchamp (1887-1968) hat die bildende Kunst des 20. Jahrhundert geprägt wie kaum ein anderer, insbesondere was grundlegende Fragen zu „Kunst“ und „Kunstwerk“ anbelangt. Besonders prägnant und berühmt ist hierbei sein Konzept des Readymades. Wenn man den Ruhm von Marcel Duchamp sowie seinen Einfluss auf nachfolgende Künstlergenerationen als Maßstab nimmt, so ist die Anzahl der von Marcel Duchamp geschaffenen und in Museen zu besichtigenden Kunstwerken sehr klein, auch sind viele seiner Werke visuell weniger eingängig als jene anderer „Kunst-Titanen des 20. Jahrhunderts“. Entsprechend selten gibt es Sonderausstellungen, die Marcel Duchamp gewidmet sind. Die Stuttgarter Staatsgalerie verfügt über einen der bedeutendsten Duchamp-Bestände in Deutschland, darunter eine große Anzahl Arbeiten auf Papier sowie Dokumente, die typischerweise im Archiv gelagert werden und nicht ausgestellt. Diese Vielfalt an Objekten, Briefen, Karteikarten etc. wird nun in einer großen Ausstellung gezeigt. Dabei geht es einerseits um Duchamp selbst und andererseits um seinen Austausch mit Serge Stauffer (1929-1989), einem Schweizer Künstler und versierten Duchamp-Forscher. So bilden die „100 Fragen“, die Stauffer brieflich an Duchamp richtete, mit den entsprechenden, postwendenden „100 Antworten“ einen Ankerpunkt der Präsentation.
Die Ausstellung ist der Abschluss umfangreicher Forschung durch Kuratorin Susanne M.I. Kaufmann zum Duchamp-Bestand der Staatsgalerie. Neben dem Stuttgarter Fundus sind auch einige wenige Leihgaben zu sehen, darunter eine Replik des „Großen Glases“ aus dem Moderna Museet in Stockholm.
Kunst + Physik:
Marcel Duchamp gilt vor allem als „Künstler für (Konzept-)Künstler“ sowie als „Künstler für Kunsttheoretiker“. Da mag man sich fragen, ob es für eine Physik-Sicht in Duchamps Werk überhaupt Anknüpfungspunkte gibt. Tatsächlich finde ich aber sehr viele. Das mag mit dem vergleichsweise sachlichen, intellektuellen Vorgehen von Duchamp zusammenhängen, der dem naturwissenschaftlicher Arbeit nahe steht.
Und dann gibt es einzelne Werke, die „Kunst und Physik“ geradezu paradigmatisch beinhalten. Da sind zu allererst die „3 Stoppages étalon“ („3 Kunststopf-Normalmaße“, Original von 1913/14 im MoMA New York, hier mit dem Stuttgarter Exemplar 1/8 der Edition von 1964), mit denen Duchamp das Konzept „Zufall“ in die moderne Kunst einführt, in denen er aber auch Themen wie „Maße und Messung“ und „Reproduzierbarkeit eines Experimentes“ aufgreift. Und die „Rotoreliefs“ (1935, hier in der Auflage von 1969) verarbeiten das physikalische Konzept der Rotation mit physiologischen Effekten des Sehens. Aber auch vielfältige andere physikalische Aspekte, etwa Transparenz bei den Fenstern oder dem „Großen Glas“, treten prominent auf.
Persönliche Einschätzung:
Dies ist eine Ausstellung, die sowohl für Duchamp-Experten als auch für Duchamp-Neulinge geeignet ist. Und wenn man bedenkt, wie selten Duchamp im sonst so reichhaltigen Ausstellungsreigen der Kunstmuseen ist, so sei ein Besuch der Ausstellung umso mehr angeraten.
Eine Duchamp-Ausstellung angemessen zu präsentieren ist in keinem Fall einfach: Viele seiner Werke erschließen sich nicht auf den ersten Blick, sondern man braucht als Betrachter Hinweise oder Hintergrundwissen, um sich Duchamps Überlegungen, die seinen Arbeiten zugrundeliegen, zu erschließen. Diese Schwierigkeit wird in dieser Ausstellung auf eine meiner Meinung nach sehr elegante Art und Weise gelöst: Die „100 Fragen“ von Serge Stauffer und die „100 Antworten“ darauf von Marcel Duchamp machen von Anfang an deutlich, dass es erlaubt ist, vielfältige Fragen zu stellen und dass nicht erwartet wird, dass der Besucher schon im Voraus über Duchamp Bescheid weiß. So kann man in der Ausstellung die Fragen/Antworten von Stauffer/Duchamp durchlesen, welche sich dem Duchamp-Neuling aber kaum erschließen werden, da es dabei meist um einzelne Details aus Duchamps Werk und Wirken geht. Von Kuratorenseite wurden aber 100 andere kurze Fragen formuliert, anhand denen sich der Besucher den Aussstellungsstücken sowie den Konzepten von Duchamp und dem Wirken von Stauffer nähern kann. Diese Fragen sind auf Postkarten gedruckt (Layout stammt von Joseph Kosuth) quer durch die Ausstellung verteilt aufgestellt und die Rückseiten der Postkarten geben knappe Antworten. Und die Besucher können die Postkarten sogar mit nach Hause nehmen. Dies ist für mich die erfrischendste Idee seit langem, wie Kunstmuseen der Herausforderung begegnen können, wie man den Besuchern relevante oder hilfreiche (Hintergrund-)Informationen im richtigen Maße und auf die richtige Art verfügbar macht.
Fazit: Kunst von Marcel Duchamp ist kein einfaches Terrain, aber die Stuttgarter Ausstellung ist aus meiner Sicht (eines eher rational denn emotional vorgehenden Museumsbesuchers) eine gelungene Präsentation mit vielen Überraschungen.
Tip für den Besuch:
Man nutze die Hilfen zum Einstieg in die Welt des Marcel Duchamp, konkret die Postkarten! Und genaues Hinschauen lohnt bei vielen Werken. Man muss dazu aber bereit sein, sich auf die speziellen Denkweisen Duchamps einzulassen. Denn eine auf den ersten Blick sinnliche Ausstellung ist dies nicht (und wird es zu Duchamp wohl auch nie geben). Also: Zeit mitbringen und keine einfache Kost erwarten.
Persönliche Favoriten:
- Marcel Duchamp: „3 Stoppages étalon“ („3 Kunststopf-Normalmaße“ (1913/14) 1964), „Kunst und Physik“ im Höchstmaß.
- Marcel Duchamp: „La Bagarre d’Austerlitz“ („Die Schlägerei von Austerlitz“, 1921) und „Fresh Widow“ ((1920) 1964, eine Leihgabe aus Schwerin). Die beiden Fensterobjekte stehen nebeneinander auf einem Podest frei im Raum, so dass sich die Rolle als Fenster viel besser zeigt als bei der sonst in der Staatsgalerie üblichen Präsentation in einer Vitrine.
- Ugo Mulas: „Marcel Duchamp“ (1972). Zehn Fotografien, die Marcel Duchamp in unterschiedlichen Umgebungen zeigen und auf denen man seine Persönlichkeit erahnt.
- Serge Stauffer: „Weg zu / weg von Marcel Duchamp (c’est la vie)“ (1987) sind lustige Fotografien auf den Lebensspuren bzw. unter dem Einfluss von Marcel Duchamp.
- Die Postkarte mit der Frage „Was ist Ihre Lieblingszahl?“ (bei Duchamp spielt die Zahl 3 eine wichtige Rolle) ist von den hundert Fragen die Nummer 42.