Ausstellung: „[un]erwartet. Die Kunst des Zufalls“
Wo: Kunstmuseum Stuttgart
Wann: 24.9.2016 – 19.2.2017
Eintritt: 11€/8€
Katalog: Der Katalog kostet im Kunstmuseum 29€, im Buchhandel 36€ (jeweils broschiert). Der Katalog enthält mehrere einführende bzw. essayistische Texte zum Thema Zufall in unterschiedlichen Kontexten (bildende Kunst, Literatur, Musik, Film, Mathematik), dazu großformatige Abbildungen eines (großen) Teils Ausstellungsstücke sowie eine Liste der ausgestellten Objekte. Bis auf wenige Werke, die in den Einführungstexten erwähnt werden, erläutert der Katalog praktisch keine der ausgestellten Arbeiten. Das finde ich schade, da eine ganze Reihe dieser Arbeiten sich für den ungeübten Betrachter nicht sofort erschließen. Hier hätte ich mehr Details gewünscht.
Der Katalog ist zweisprachig (deutsch/englisch), was angesichts der bisher recht geringen Literatur zum Thema „Kunst und Zufall“ durchaus zu begrüßen ist.
Über die Ausstellung:
Das Phänomen Zufall begegnet uns in vielerlei Kontexten und somit ist es nicht überraschend, dass der Zufall auch in der bildenden Kunst wiederzufinden ist. Die Ausstellung „[un]erwartet. Die Kunst des Zufalls“ kann somit aus einem sehr breiten Fundus schöpfen, konzentriert sich dabei aber sehr stark, nämlich auf Künstler, die sich in ihren Werken sehr konkret mit dem Zufall auseinander gesetzt haben und die ganz bewusst einen Teil der Werkentstehung dem Zufall überlassen wollen.
Nach einem Auftakt mit Marcel Duchamp sowie den Surrealisten folgt eine ganze Reihe von Künstlern vor allem der 1960er und 1970er Jahre, die sich mit teils sehr theoretischen Konzepten zum Zufall (etwa aus der Mathematik oder der Informationswissenschaft) befassen und in ihren teils sehr konzeptionellen Werken umsetzen. Es folgen Abschnitte zum Zufall in der Literatur und in der Musik. In der obersten der drei Ausstellungsetagen endet die Präsentation mit einer kleinen Auswahl sehr unterschiedlicher Werke der zeitgenössischen Kunst, in denen der Zufall teils sehr konkret aufgegriffen wird bzw. die Rolle des Zufalls für unser Leben hinterfragt wird.
Kunst + Physik:
Der Zufall spielt in der Physik eine vielschichtige Rolle und in der Ausstellung gibt es mehrere Künstler, die physikalische Umsetzungen zufälliger Ereignisse nutzen (z.B. Marcel Duchamp, Dieter Hacker, Pe Lang). Viel präsenter ist hingegen der Zufall als mathematisches Konzept: Verschiedene der präsentierten Künstler haben bei der Realisierung ihrer Werke bewusst einen „externen Zufall“, auf den sie selber keinen Einfluss haben, genutzt und damit die Werkentstehung teilweise aus ihrer Hand gegeben. Um solche „Zufallswerte“ zu erhalten, haben diese Künstler einerseits klassische Zufallsmethoden wie Würfeln oder Loseziehen verwendet (z.B. Peter Lacroix, Vera Molnar), die zwar teils physikalischer Natur sind aber kaum mehr als solche wahrgenommen werden sondern als „Modellsystem für Mathematik“. Andererseits haben einige Künstler teils hochmoderne mathematische oder computer-basierte Methoden verwendet, um Zufallsfolgen für ihre künstlerische Tätigkeit zu erzielen (z.B. François Morellet, Rune Mields). Um diese Methoden dem Besucher zumindest ansatzweise zugänglich zu machen, gibt es in der Ausstellung Erklärungstexte auf türkisfarbenen, hockerartigen Würfeln.
Etwas abgeschieden von der eigentlichen Ausstellung gibt es im Erdgeschoss des Kunstmuseums einen separaten Raum, der den Besuchern als „VersuchsLabor“ dient und in dem man anhand von neun Experimenten selber mit verschiedenen Konzepten zum Thema Zufall aus Physik und Mathematik Erfahrungen sammeln kann.
Persönliche Einschätzung:
[Vorbemerkung: Obwohl ich selber aktiv in die Vorbereitung der physikalischen Experimente des VersuchsLabors involviert war, ist meine Einschätzung der Ausstellung hoffentlich trotzdem einigermaßen objektiv.]
Die Ausstellung beleuchtet mit dem Zufall ein Thema, das im Kontext der bildenden Kunst bzw. der Kunstgeschichte oder als Ausstellung bisher erst recht wenig untersucht wurde. Somit hat die Ausstellung eine ganze Menge Neues zu bieten. Hierbei finde ich es besonders beachtlich, dass sich die Ausstellungsmacher ganz bewusst auf die theoretischen Konzepte hinter den Werken einlassen – dies ist intellektuell sicherlich viel anspruchsvoller und den Betrachter viel fordernder als etwa eine „zufällig wirkende Farbverteilung bei Jackson Pollock“ zu präsentieren. Gerade die hier vertretenen Künstler, die sich mit den mathematischen Ideen zum Zufall befassen, haben Werke geschaffen, die sich für den unbedarften Museumsbesucher auf den ersten Blick kaum erschließen. Da es sich dabei oft um „geometrisch-konzeptionelle“ Arbeiten handelt, sind diese obendrein visuell natürlich nicht so eingängig wie etwa Publikumsrenner aus Im- oder Expressionismus und auch die wenigen „lustigen“ Werken erfordern auf ein genaues Hinschauen.
Das Kunstmuseum Stuttgart hat in den letzten Jahren mit verschiedenen thematischen Ausstellungen interdisziplinär gearbeitet, etwa zuletzt mit einem ganzen, der Musik gewidmeten Jahr. Dass sich mit „Zufall“ nun ein ganz bewusst mathematisch-naturwissenschaftliches Thema anschließt und dieses auch schwerpunktmäßig durch Künstler präsentiert wird, die es auch als solches auffassen, finde ich mutig und ich hoffe, dass sich möglichst viele Besucher sich auf dieses Wagnis in die Richtung einer nüchtern-naturwissenschaftlichen Auffassung eines Alltagsphänomens lassen.
Tip für den Besuch:
Es gibt in den Ausstellungsräume kurze Saaltexte (auf aushängenden Zetteln) sowie eher „technische“ Erläuterungen, die auf türkisfarbene, hockerartige Würfel gedruckt sind. Da die Konzepte hinter vielen der ausgestellten Arbeiten nicht auf den ersten Blick offensichtlich sind, würde ich diese Texte dem Besucher dringend anraten.
Das „VersuchsLabor“, das physikalische und mathematische Konzepte zum Thema Zufall mit verschiedenen Experimenten erfahrbar macht, befindet sich im hintersten Raum der ständigen Sammlung des Kunstmuseums und ist somit von der eigentlichen Ausstellung in den drei Obergeschossen im „Kubus“ räumlich ziemlich weit getrennt. Die Besucher, die diesen langen Weg hinter sich bringen, werden dort mit für ein Kunstmuseum ungewöhnlichen Experimenten belohnt! Die Anleitungen für die Experimente liegen als separates Heft aus.
Persönliche Favoriten:
- Victor Hugo: „Degradierter Vogel, dessen Geschwätz die Hexe bloßstellt“.
- Marcel Duchamp: „Trois stoppages étalon“ (1913/14, 1964).
- François Morellet mit verschiedenen Werken, die auf zufälligen Aspekten von Telefonnummern basieren.
- Pe Lang: „moving objects“.
- Timm Ulrichs: „Casual : Causal“ (1982).
- Christian Jankowski: „Telemistica“ (1999). Das ganze Video dauert 22 Minuten, aber auch sich lediglich einzelne Abschnitte anzuschauen und –hören ist äußerst unterhaltsam. (Jankowski ruft vor der Biennale in Venedig bei verschiedenen italienischen Fernseh-Wahrsagern und lässt sich seine Zukunft als Künstler vorhersagen.)