Mit dem Jahr 2019 geht auch das große Leonardo da Vinci-Jubiläum zu Ende. Aus diesem Anlass möchte ich noch eine Begebenheit meines Rom-Aufenthaltes im Sommer erläutern. So schlenderte ich dort ganz ungeplant zunächst an „Le invenzioni di Leonardo da Vinci“ vorbei, einer Präsentation „aus Anlass des 500. Todestages von Leonardo“ in einem kleinen Haus in einem pittoresken Gässchen. Dass es sich hierbei um eine kommerzielle Ausstellung handelt, bei der keinerlei Original-Werk von Leonardo zu erwarten ist, war für mich hierbei auf den ersten Blick ersichtlich, stattdessen wurden „50 lebensgroße, voll funktionsfähige Maschinen“ angepriesen, also Nachbauten von Leonardo-Erfindungen. Solche Ausstellungen mit „Modellen nach Leonardo da Vinci“ habe ich schon in mehreren anderen Städten beworben gesehen.
Als ich einige Straßen weiter am Palazzo della Cancelleria vorbeikam, einem großen Palast mit beeindruckendem Innenhof, wurde dort eine weitere, vergleichbare Leonardo-Ausstellung präsentiert, diesmal mit dem Titel „Leonardo da Vinci. Il Genio e le invenzioni“. Geradezu schockiert war ich dabei von etwas, was direkt vor dem Eingang der Ausstellung als Eyecatcher platziert war: Nämlich ein Nachbau von „Leonardos Fahrrad“. Die Geschichte dahinter ist schnell erzählt: 1974 wurde auf der Rückseite eines der zahlreichen Blätter des Codex Atlanticus, die in der Biblioteca Ambrosiana in Mailand aufbewahrt werden und die mit vielfältigen handschriftlichen Notizen und Zeichnungen Leonardos gefüllt sind, eine vorher nicht bekannte Zeichnung eines Fahrrades aufgefunden und dann weitreichend bekannt gemacht: Leonardo da Vinci habe damit eine weitere visionäre Idee gehabt und somit das Fahrrad zu einer italienischen Erfindung gemacht. (So habe ich vor einigen Jahren ein Werk von Jean-Michel Basquiat gesehen, welches „Leonardos Fahrrad“ explizit zitiert.) Aber die Zweifel an der Echtheit der Fahrrad-Skizze ließen nicht lange auf sich warten, denn der Zeichenstil passt nicht zu Leonardo, die Zeichnung war bei früheren Durchsichten des Codex Atlanticus nicht dokumentiert und obendrein wäre das Fahrrad in der gezeichneten Form de facto fahruntüchtig. Deshalb gilt „Leonardos Fahrrad“ innerhalb der Fachwelt seit langem nicht mehr als Original aus der Hochrenaissance, sondern als Fälschung. Wer diese angefertigt hat und wann, ist hingegen nicht bekannt und auch nicht, ob dies in böswilliger Absicht geschah oder als Scherz.
Was aber klar ist: Wenn ich heute „Leonardos Fahrrad“ irgendwo sehe, befürchte ich sofort Unwissenschaftlichkeit. Da ich die Ausstellung im Palazzo della Cancelleria nicht besucht habe, weiß ich nicht, ob dort aufgeklärt wurde, dass das hölzerne Fahrrad vor dem Eingang gar nicht auf eine Idee Leonarda da Vincis zurückgeht. Ebenso habe ich auch „Le invenzioni di Leonardo da Vinci“ nicht besucht, wo im Schaufenster unter den Merchandizing-Artikel ein T-Shirt hing, das das Fahrrad ebenfalls prominent in Szene setzte. Prinzipiell finde ich Präsentationen zu den technischen Erfindungen von Leonardo da Vinci durchaus sinnvoll, denn sie lenken den Blick auf faszinierende Aspekte von Leonardos Wirken, die immer noch weit weniger populär bekannt sind als die Mona Lisa oder der Vitruvianische Mensch. Obendrein regen sie auch zum naturwissenschaftlich-technischen Mitdenken und Ausprobieren an. Aber ob man dafür knapp zehn Euro Eintritt bezahlen möchte?
Meine letzten Leonardo-Eindrücke 2019 in Rom gab es dann am internationalen Flughafen, der als Aeroporto di Roma-Fiumicino “Leonardo da Vinci” ja sogar nach Leonardo da Vinci benannt ist. Und in der Tat war Leonardo im Flughafengebäude auf passende Art und Weise präsent, nämlich mit Nachbauten einiger seiner Flugapparate, mit detaillierten Erläuterungen zu den Entwürfen sowie mit „virtuellen Flügen“ genau dieser Apparate. Und das alles bei freiem Eintritt!