Wenn ich als Zuhörer in Physik-Vorträgen eine Abbildung aus dem Bereich „Kunst“ sehe, ist das in den allermeisten Fällen ein große Überraschung – denn es kommt nur sehr selten vor, da es von meinen beruflichen Forschungsgebieten keine direkte Verbindung zu bildender Kunst gibt. Somit ist die Anknüpfung des jeweiligen Vortragsthema an ein Kunstwerk meist sowohl inhaltlich kreativ als auch visuell ansprechend. Und somit lohnt es, Beispiele hierfür im „Kunst und Physik“-Blog aufzugreifen!
Kürzlich habe ich bei einem Treffen des Kompetenznetzes „Quantentechnologie – Baden-Württemberg“ (QTBW) einen Vortrag von Athanassios Boudalis, Chemiker am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), zu „molecular spin triangles“ gehört, also zu Molekülen, in denen lokalisierte Spins in einer Dreiecksgeometrie vorliegen. Diese geometrische Anordnung kann zu vielfältigen Ausprägungen magnetischer Wechselwirkungen führen, die sich teilweise entgegenstehen. In seiner Abschlussfolie zeigte Athanassios Boudalis dann eine Innenansicht der Kuppel der Kirche Hagia Sophia in Thessaloniki und zog eine Analogie zu den Spin-Dreiecken, indem er auf die Kräfteverteilung in den Zwickeln der zentralen Kuppelkonstruktion hinwies, mit denen die Gewichtskräfte der eigentlichen Kuppel auf die Stützpfeiler rings um die Vierung der Kirche geleitet werden. Als Teil der „frühchristlichen und byzantinischen Bauten in Thessaloniki“ gehört die Hagia Sophia zum UNESCO-Weltkulturerbe. Errichtet wurde die Kirche wohl im 8. Jahrhundert n.Chr. und das prächtige Mosaik in der zentralen Kuppel, welche die Himmelfahrt Christi darstellt, wird auf das 9. Jahrhundert datiert.
Athanassios Boudalis hat die Analogie zwischen Kräften in molekularen Spin-Dreiecken und der Kuppelkonstruktion übrigens auch bei seinem kürzlich erschienenen Übersichtsartikel „Half-Integer Spin Triangles: Old Dogs, New Tricks“ (A. K. Boudalis, Chem. Eur. J 27, 7022 (2021)) in Form der Frontispiz-Abbildung genutzt. Und für die Abstract-Seite hat er ein weiteres berühmtes Architekturbeispiel ausgewählt, bei dem sich aufhebende Kräfte im Dreieck wirken, nämlich das Löwentor von Mykene aus dem 13. Jahrhundert v.Chr., bei dem das namensgebende monolithische Löwenrelief das Entlastungsdreieck der Konstruktion des monumentalen Tores füllt. Auch die archäologischen Stätten von Mykene sind, gemeinsam mit jenen von Tiryns, Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Aus Anlass des Jubiläums von Heinrich Schliemann, der in der 1870er Jahren zunächst in „Troja“ und danach in Mykene Ausgrabungen durchführte, war das Löwentor kürzlich in den aktuellen deutschen Medien zu finden – dort aber als Symbol für die aufkeimende Archäologie im Kontext des 19. Jahrhunderts und nicht für Magnetismus in Molekülen.