Roman Opalka (1931-2011) hat ein ganz besonderes Lebenswerk geschaffen: In seinen Kunstwerken zählte er, beginnend bei der Null, zu immer höheren Zahlen und er schrieb diese dabei auf. Die bekannteste Verwirklichung seines Zählprozesses sind die von ihm auf standardisierten, mannshohen Leinwänden erstellten „Details“, beginnend mit weißen Zahlen auf einer schwarz grundierten Leinwand. Bei späteren „Details“ wurde die Grundierung ein immer heller werdendes Grau. Als letzte Zahl, die Roman Opalka vor seinem Tod schrieb, ist übrigens 5607249 überliefert.
Ich selber habe erstmals von Roman Opalka und seinem Werk im Jahre 1993 erfahren, als ihm der Kaiserring der Stadt Goslar verliehen wurde. Damals habe ich seinen jahrzehntelangen Prozess des Zählens und Aufschreibens (und des Sprechens der Zahlen auf Tonband) neugierig zur Kenntnis genommen, mich aber auch sofort – zu dem Zeitpunkt überlegte ich, ob ich einmal Mathematik oder Physik studieren möge – gefragt, ob Roman Opalka beim Zählen und Aufschreiben vielleicht auch einmal einen Fehler macht, sich verzählt. Würde Roman Opalka ein „perfekter Zähler“ sein? Für mich war der nächste naheliegende Schritt zu dieser Frage im Sinne eines kritischen (naturwissenschaftlichen) Denkens natürlich: Nachprüfen! Also die von Opalka aufgeschriebenen Zahlenfolgen durchgehen und schauen, ob dabei irgendwo in der Abfolge etwas nicht stimmt. Gedacht, getan, am einfachsten beginnend mit dem ersten „Detail“, mit den kleinsten Zahlen. Und für mich überraschend habe ich auf dieser ersten „Detail“-Leinwand recht schnell einen Zählfehler gefunden (wenn ich mich richtig erinnere, ist da etwas in der Ziffernfolge vertauscht). Das war für mich einerseits enttäuschend – „schon bei so kleinen Zahlen etwas falsch“ –, aber andererseits war es auch beruhigend, denn es bedeutete: Wenn ich in Zukunft wieder Werke von Roman Opalka sehen würde, bräuchte mich die Frage danach, ob die jeweilige Zahlenfolge absolut korrekt ist, nicht weiter beschäftigen.
An all dies wurde ich nun einmal mehr erinnert: In der aktuellen Ausgabe des Kunstmagazins „art“ findet sich in der Sektion „Radar: Bilder des Monats“ unter der Überschrift „Finde den Fehler“ eine Detailabbildung eines Opalka-„Details“ mit der Erläuterung, dass ein Museumsbesucher, der sich selbst als „Zahlenmensch“ beschreibt, auf dem derzeit in Düsseldorf ausgestellten Gemälde „1965/1 – ∞, Detail 612464 – 638092“ (auch die Titulierung der „Details“ hatte Opalka formalisiert) einen Fehler in der Zahlenfolge gefunden habe: „Opalka hat die 622009 vergessen! Sehen Sie es selbst, […] Neben der 622008 steht die 622010.“ Wenn ich nun genau dies tue, also selbst hinsehe, wird auf den zweiten Blick deutlich, dass die fehlende Zahl nicht 622009 ist, sondern 627009. All dies zeigt einmal mehr ein Qualitätsmerkmal guter Kunst, dass sie nämlich unterschiedliche Menschen zu ganz unterschiedlichen Herangehensweisen an ein Werk veranlasst. Und es zeigt, dass es wahrlich nicht jedermanns Sache ist, beim Betrachten eines Kunstwerks länger im Detail richtig ab- oder nachzuzählen. Oder wollte die „art“-Redaktion mit diesem „Druckfehler“ bloß ihre Leserschaft testen oder herausfordern?
Und wenn ich heutzutage an Roman Opalka und sein Gesamtwerk denke, ist es mir dieses sogar sympathischer „mit Zählfehler“ als ohne, weil damit klar ist, dass Opalka ein Mensch und keine Maschine war und dass es ihm um die Idee des Zählens ging und um deren kontinuierliche Umsetzung, aber nicht um eine technisches Perfektion.