Am 31.5.2020 starb Christo, nachdem am 18.11.2009 bereits seine kongeniale Partnerin Jeanne-Claude gestorben war. Das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude (Christo Vladimirov Javacheff und Jeanne-Claude Denat de Guillebon, beide geboren am 13.6.1935) spielt für mich für das Kunstgeschehen der letzten Jahrzehnte eine ganz besondere Rolle. Denn sie agierten anders als die meisten anderen institutionell anerkannten bildenden Künstler – irgendwie als jahrzehntelang etablierter Teil der traditionellen Kunstwelt, irgendwie aber auch am Rand der Kunstwelt und irgendwie darüber hinaus, dabei unglaublich viele Menschen für zeitgenössische Kunst aktivierend.
Mir selber wurden Christo und Jeanne-Claude zum ersten Mal 1987 rundum bewusst. Christo erhielt den Goslarer Kaiserring. Zwar war Jeanne-Claude bei der Verleihung präsent und wurde auch verbal gewürdigt – aber erst einige Jahre später traten „Christo and Jeanne-Claude“ auch offiziell als gemeinsame Schöpfer ihrer Werke auf. Rückblickend sagt dies sicherlich eine Menge aus über die gesellschaftlichen Zeiten, zu denen Christo und Jeanne-Claude ihre künstlerischen Aktivitäten begannen.
Bei der Kaiserringverleihung 1987 war ich erst 14 Jahre und ich erinnere mich, dass ich die in Goslar präsentierten Werke, insbesondere die großen Projekte (einschließlich einiger Dokumentarfilme über ihre technisch sehr aufwändige Realisierung), zwar interessiert, aber auch zurückhaltend aufgenommen habe. Ist das Kunst? Was soll Kunst sein? 1988 waren Christo und Jeanne-Claude wieder in Goslar: Das Erzbergwerk Rammelsberg wurde nach über 1000-jährigem Betrieb geschlossen (und ist inzwischen UNESCO Weltkulturerbe). Christo und Jeanne-Claude schufen „Package on a hunt“, indem sie den letzten Förderwagen („Hunt“) des Bergwerks verpackten – er ist in Goslar im Mönchehausmuseum zu sehen.
1995 fand dann in Berlin „Wrapped Reichstag“ statt, das einzige große Projekt von Christo und Jeanne-Claude, welches ich selber live erleben durfte. Damals studierte ich in Braunschweig und wie viele meine dortigen Kommilitonen, Hildesheimer Freunde oder Verwandten, fuhr ich deswegen an einem Wochenende – das „Schönes-Wochenende-Ticket“ der deutschen Bahn (5 Menschen, ein Wochenende, 15 Mark) erfreute sich gerade größter Beliebtheit – nach Berlin. Und dann vor Ort war ich tief beeindruckt: Vom Anblick des silberfarben schimmernden Blockes, dessen Umrisse zwar den Reichstag verrieten, die dunkle und (bedeutungs-)schwere reguläre Erscheinung des Gebäudes aber vollkommen verdeckten. Ebenso beeindruckend und für mich noch überraschender war aber die Stimmung unter den vielen anwesenden Menschen, die sich staunend um das verhüllte Gebäude bewegten, vielleicht ein bisschen mit den rings um den Reichstag verteilt stehenden Helfern („Monitore“ genannt) redeten, und sich über die ca. 5cm x 5cm großen Stoffproben des aluminiumbedampften grauen Kunststoffgewebes freuten, die man von den „Monitoren“ geschenkt bekommen konnte.
Sicherlich hatte das wunderbar sonnige Sommerwetter auch Anteil an dieser rundum positiven Stimmung, aber natürlich war der Kern Christos und Jeanne-Claudes Werk, das neben dem ästhetischen Reiz auch gesellschaftlich-politische Aspekte betraf („Was ist Demokratie und was sind ihre Symbole?“) und wirtschaftlich-umweltpolitische („Das gesamte Material wird recycelt, es werden keine Spuren am Gebäude zurückgelassen und die Finanzierung wird in vollem Umfang von den Künstlern selbst ermöglicht, indem sie Skizzen etc. verkaufen.“) Nie zuvor hatte ich eine solche sich zwar fröhlich mitteilende, aber angesichts der Tausenden „partizipierenden“ Mitmenschen auch irgendwie ruhige, rundum positive Begeisterung unter einer derartigen Menschenmasse erlebt – und vermutlich habe ich sie in dieser Form auch nie wieder erlebt. Und das in Deutschland 1995, also mehr als ein Jahrzehnt vor dem fußballbedingten Sommermärchen, das mir dann wieder ähnlich „in großer Menge gemeinsam erlebte Freude“ bescherte, aber dann eben durch ein von der deutschen Mannschaft gewonnenes Fußballspiel, bei dem es logischerweise auch eine Verlierermannschaft und deren traurige Fans gab. Aber gab es bei „Wrapped Reichstag“ traurige Menschen? Ich kann mich an keine erinnern!
Seit 1995 konnten Christo und Jeanne-Claude noch einige weitere große Projekte verwirklichen, die ich zwar nur in den Medien verfolgt habe, aber ich habe mich jedes Mal gerne an „Wrapped Reichstag“ erinnert und für die Menschen gefreut, die zum jeweiligen Zeitpunkt irgendwo auf der Erde dank Christo und Jeanne-Claude hoffentlich ebenso rundum positive Eindrücke erleben durften.
In den letzten Jahren, seit ich mich intensiver mit der Kombination zwischen Kunst und Physik befasse, habe ich mich auch mehrmals gefragt, inwieweit dieser Aspekt bei Christo und Jeanne-Claude ein Rolle spielt. Auf den ersten Blick bestechen ihre großen Projekte natürlich durch ihre visuelle Präsenz, durch die oftmals geradezu poetische Einbindung in ihre Umgebung und durch die gesellschaftlichen Überlegungen. Aber auf den zweiten Blick gibt es auch einiges an Physik zu entdecken, etwa bei der praktischen Realisierung der großen Projekte – von deren technischer Perfektion ich bei Wrapped Reichstag wahrlich beeindruckt war, die sich aber bewusst hinter einem einfachen Anschein versteckt, der einen vielleicht glauben lässt, dass es sich lediglich um „ein großes Stück Stoff und ein bisschen Seil“ handelt, die irgendwie um das Gebäude gewickelt sind. Aber natürlich steckt da viel mehr dahinter. Ich erinnere, wie eine ältere Dame damals in Berlin zu ihrer Begleiterin sagte: „Wie er (=Christo) nur diese tollen Falten hinbekommt.“
In anderen Projekten wird Physik deutlicher als bei den besonders bekannten Verhüllungen, so etwa bei „Valley Curtain“ (1972) und noch mehr beim „5600 Kubikmeter Paket“ bei der 4. documenta in Kassel (1968), welches Assoziationen zur recht Physik-affinen Zero-Bewegung weckt. Und auch die Arbeitsweise der Künstler erinnerte ein bisschen an Abläufe, wie man sie aus der physikalischen Forschung kennt: Jahre- oder jahrzehntelang auf ein spezielles Ziel hinarbeiten, sich nicht von Rückschlägen abschrecken lassen und dann, wenn dieses Ziel erreicht ist, ohne groß zu feiern sich gleich einer neuen Frage und Herausforderung widmen. Und dabei stets das Werk in den Vordergrund und die Person hintan stellen.
Vielen Dank an Christo und Jeanne-Claude, dass sie in ihrem jahrzehntelangen künstlerischen Wirken so viele dieser Herausforderungen gemeistert haben!