Noch bis zum 3.10.2021 ist in der Berliner Gemäldegalerie die Ausstellung „Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit“ zu sehen, die sich dem vielseitigen Kunstschaffen im deutschsprachigen Raum am Übergang zwischen Mittelalter und Renaissance, etwa von 1430 bis 1500, widmet. Aus „Kunst und Physik“-Perspektive ist diese Epoche und damit auch diese Ausstellung in mehrererlei Hinsicht sehr interessant. So werden in dieser Zeit verschiedene neue künstlerische Techniken etabliert (z.B. in der Druckgrafik), die vom damaligen Innovationsgeist zeugen. Außerdem finden sich in der Kunst immer mehr Detailbeobachtungen der menschlichen Umwelt wieder und damit das für die einsetzende Neuzeit charakterische Interesse an den verschiedensten Phänomenen der Welt. Und dieses Interesse, diese Neugier, münden dann in naturwissenschaftlichen Vorgehensweisen unterschiedlichster Art.
Der berühmteste deutsche Vertreter für dieses „genaue Hinschauen und (Ab-)Zeichnen der Umgebung“ ist zweifelsohne Albrecht Dürer (1471–1528) und seine aquarellierten Naturstudien wie der „Feldhase“ von 1502 oder das „große Rasenstück“ von 1503 sind dafür vermutlich die bekanntesten Beispiele. Dazu gehören auch zahlreiche Landschaftsansichten, insbesondere im Kontext seiner Alpenquerungen in Richtung Italien und zurück. Die historisch frühestens derartigen Zeichnungen führte Dürer aber im Umfeld seiner Heimatstadt Nürnberg aus. Und von diesen künstlerischen Frühwerken wiederum die bekannteste ist die „Drahtziehmühle“, deren Datierung der Kunstwissenschaft bis heute schwerfällt, die aber wohl auf 1489 oder 1494 anzusetzen ist. Wie alle Kunstwerke auf Papier wird die „Drahtziehmühle“ kaum öffentlich ausgestellt (um Vergilben und Ausbleichen zu vermeiden) und die aktuelle Ausstellung ist hierfür nun eine seltene Gelegenheit.
Aus „Kunst und Physik“-Sicht ist diese Zeichnung natürlich auch wegen des Dargestellten sehr interessant, denn eine „Drahtziehmühle“ stellte zur damaligen Zeit einen technologischen „High-Tech-Betrieb“ dar. Davon ist in der Zeichnung aber nichts zu erkennen: Man sieht den Fluß Pegnitz, an dessen Ufern hier verschiedenartige Mühlen betrieben wurden, was lediglich am Mühlstein zu erahnen ist, der an eines der Häuser gelehnt ist. Dementsprechend beruht der Titel „Drahtziehmühle“ auch nicht auf der visuellen Vielfalt der dargestellten Gebäude zwischen Vorder- und Hintergrund oder der konkreten Landschaft vor den Toren Nürnbergs, sondern auf der Beschriftung, die Dürer selbst oben mittig auf dem Blatt vorgenommen hat: „trothzichmüll“.
Stets wenn ich diese Dürer-Zeichnung mit der „Drahtziehmühle“ (oder Abbildungen davon) sehe, stolpere ich mit den Augen über die nicht so recht überzeugende perspektivische Darstellung einzelner Häuser, aber angesichts der Tatsache, dass Albrecht Dürers Schaffen hier noch lange nicht am Höhepunkt angekommen ist und dass es ihm bei dieser Zeichnung wohl gerade um Details und nicht um künstlerische Gesamtkomposition ging, ist derartige Kritik kaum angebracht. Wenige Jahre später zeichnet Dürer denselben Gebäudekomplex erneut, nun mit Blickrichtung entlang des Flusses, und schafft mit „Die Weidenmühle bei Nürnberg“ um 1496 ein bis heute in jederlei Hinsicht herausragendes Aquarell einer Landschafts- bzw. genauer Stadtrandansicht.
In der aktuellen Berliner Ausstellung hängt die „Drahtziehmühle“ neben drei anderen Zeichnungen, die Stadtansichten von Bamberg zeigen: „Die Benediktinerabtei auf dem Michelsberg vom gegenüberliegenden Regnitzufer“, „Die Karmeliterkirche vom Domberg aus“ sowie „Der Burggrafenhof auf dem Domberg“ wurden wohl um 1480 gezeichnet, möglicherweise von Wolfgang Katzheimer. Zusammen mit drei weiteren, zugehörigen Zeichnungen gelten diese Bamberg-Ansichten als früheste Stadtansichten in Form topographisch exakter Widergaben in der nordeuropäischen Zeichenkunst.
Dass die Bamberg-Zeichnungen wie Dürers Drahtziehmühle dem Berliner Kupferstichkabinett gehören erlaubt der „Spätgotik“-Ausstellung, die aus den reichen Beständen der unterschiedlichen Berliner Museen (Gemäldegalerie, Skulpturensammlung, Kupferstichkabinett, Kunstgewerbemuseum) schöpft und diese mit einigen hochkarätigen Leihgaben anderer Museen ergänzt, nun diese aufschlussreiche Gegenüberstellung.