Mit dem Physik-Nobelpreis 2022 werden Alain Aspect, John F. Clauser und Anton Zeilinger ausgezeichnet. Damit werden ihre Experimente mit verschränkten Photonen gewürdigt, mit denen sie die Verletzung der Bell-Ungleichungen nachwiesen und Pionierleistungen für die Quanteninformationswissenschaften erbrachten. Diese drei Physiker gehören in der Tat zu jenen Wissenschaftlern, die mit ihren optischen Experimenten den langwierigen Wandel von „Quanten 1.0“ zu „Quanten 2.0“ bewirkten: Während die „erste Quantenrevolution“ zeigte, dass physikalische Messgrößen quantisiert sind (d.h. es gibt jeweils eine „kleinste Einheit“, die nicht grundsätzlich weiter unterteilt werden kann), geht es in der „zweiten Quantenrevolution“, die das derzeitige starke Interesse an Quantentechnologien (Quantencomputer, Quantenkommunikation, Quantensensoren) begründet, darum, physikalische Systeme auf dem Niveau einzelner Quanten (einzelne Photonen, einzelne Atome, einzelne Anregungen von Quantenschaltkreien etc.) zu kontrollieren und zu nutzen. (Bei Experimenten zur „ersten Quantenrevolution“ wurden große Ensembles jeweils gleicher Quanten untersucht und nicht wirklich „einzelne Quanten“.) Somit sind die Physik-Nobelpreisträger 2022 in direktem Zusammenhang zu sehen mit jenen von 2012: Die damals ausgezeichneten Serge Haroche und David Wineland sind Pioniere bzgl. Kontrolle und Auslesen einzelner Quantensysteme im Wechselspiel von Licht und atomarer Materie, wohingegen es bei Aspect, Clauser und Zeilinger vorrangig „nur“ um Photonen geht, die aber der Hauptbestandteil aktueller Forschung zu Quantenkommunikation sind. Über diese technologische Anwendung hinaus hatten die Experimente von Clauser, Aspect und Zeilinger eine viel grundlegendere Bedeutung für Physik als Ganzes und obendrein damit auch eine philosophische Komponente.
Die Theorie der Quantenmechanik wird oft als „dem Alltagsverstand widersprechend“ dargestellt. Zwei Aspekte dabei sind Zufall und Verschränkung. So gibt es physikalische Vorgänge, deren Ergebnis aus fundamentalen Gründen nicht vorhergesagt werden kann, sondern man kann nur Wahrscheinlichkeiten hierfür angeben („probabilistisch“), d.h. hier tritt echter physikalischer Zufall auf. „Verschänkung“ hingegen besagt, dass es Quantensyteme gibt, deren Zustände auf quantenmechanische Art so miteinander verknüpft sind („korreliert“), dass man es mit „nicht-Quantentheorien“ nicht beschreiben kann. Für die historische Entwicklung und das grundlegende Verständnis der Quantenmechanik war bedeutsam, dass Albert Einstein diesen beiden Kompenten der Quantenmechanik ablehnend gegenüberstand. Zur Rolle des Zufalls sagte er sinngemäß „Gott würfelt nicht“ und um nachzuweisen, dass quantenmechanische Verschänkung in der realen physikalischen Welt nicht auftritt, formulierte er gemeinsam mit Boris Podolsky und Nathan Rosen das sogenannte Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon. In beiden Fällen haben Experimente in der Zwischenzeit gezeigt, dass Quantenmechanik korrekte Vorhersagen macht – und Einstein somit falsch lag.
Die entscheidenden Experimente zur Verschränkung begannen dabei mit John Clauser (geb. 1942) und Stuart J. Freedman (1944-2012) im Jahr 1972 in Berkeley. Unter der Leitung von Alain Aspect (geb. 1947) erfolgte 1982 in Orsay (südlich von Paris) dann eine deutliche Verbesserung dieser Experimente. So wie ich es von Kollegen aus der Atom- und Quantenphysik gehört habe, war dies der entscheidende Durchbruch, der grundlegende Kritik am Konzept der quantenmechanischen Verschränkung unter Physiker verstummen ließ. Aber es gab weiterhin kleine sogannte „Schlupflöcher“, d.h. gewisse fundamentale Schwächen des Experimentes, die in den folgenden Jahren nach und nach behoben wurden. Hierbei spielte Anton Zeilinger (geb. 1945) mit seiner Gruppe zunächst in Innsbruck und danach in Wien eine wichtige Rolle. Obendrein war und ist Zeilinger bis heute wegweisend bei verschiedenen Forschungsentwicklungen zur Anwendung grundlegender Phänomene der Quantenmechanik insbesondere mit Photonen.
In Österreich und im deutschsprachigen Raum insgesamt gehört Anton Zeilinger zu den prominentesten Quantenphysikern überhaupt und er engagiert sich auch sehr stark in der Vermittlung von Quantenmechanik an die Allgemeinheit. Und besonders interessant im Kontext „Kunst und Physik“: 2012 fand in Kassel die documenta 13 unter der Leitung von Carolyn Christov-Bakargiev statt, die sowohl beim Publikum als auch bei der Kunstkritik positiv aufgenommen wurde und damit die Bedeutung der documenta als die neben der Biennale in Venedig traditionell wichtigste westliche Kunstausstellung untermauerte. Christov-Bakargiev überschritt in ihrem Ausstellungskonzept dabei vielfach die klassischen Grenzen musealer Kunst und so lud sie auch Anton Zeilinger bewusst als Physiker ein, um auf der documenta die „ungewohnte Welt der Quantenphysik“ im Kunstkontext darzustellen. Zeilinger setzte dies dann mit seinem Team derartig um, dass in einem der größten Ausstellungsräume des Fridericianums mehrere Quantenoptik-Experimente aufgebaut wurden und diese vor den Augen der Besucher wirklich betrieben wurden: Es wurden keine Filmaufnahmen oder vereinfachte Demonstrationsvorführungen gezeigt, sondern die quantenoptischen Experimente liefen in echt! So etwas 100 Tage lang nicht unter Labor-, sondern unter Publikumsbetriebsbedingungen (documenta 13 insgesamt: 900.000 Besucher) durchzuführen stellt eine große Herausforderung dar und deshalb habe ich als Experimentalphysiker größte Hochachtung vor dieser Präsentation bei der documenta 13.
Im Juli 2015 trug Anton Zeilinger übrigens in der an die breite Öffentlichkeit gerichteten Vortragsreihe „Physik die Wissen schafft“ des Stuttgarter Physik-Fachbereichs vor und das entsprechende Video ist eines der meistangesehenen überhaupt im Youtube-Kanal der Universität Stuttgart.
Zum Schluss diese Textes bleibt noch zu erklären, was es mit den „Bellschen Ungleichungen“ aus dem Titel auf sich hat, die auch in der Nobel-Würdigung der diesjährigen Physik-Preisträger explizit genannt werden: John Stewart Bell (1928-1990) formulierte 1964 eine Ungleichung, die erstmals eine Möglichkeit eröffnete, wie ein Experiment eindeutig nachweisen könnte, ob die auch für Einstein „nicht-intuitive“ Theorie der quantenmechanischen Verschränkung korrekt (und für die Beschreibung der Wirklichkeit notwendig) ist. Ein derartiges Ergebnis würde dann ausschließen, dass es bestimmte andere, möglicherweise „intuitivere“ Theorien geben könnte, die derartige Effekte ohne Verwendung von quantenmechanischer Verschränkung erkären könnten. Mit den Experimenten von Clauser, Aspect und Zeilinger ist genau dies dann gelungen und somit gibt es unter Physikern (und Philosophen) heutzutage keine ernsthaften Zweifel mehr daran, dass die Theorie der Quantenmechanik mit dem Effekt der Verschränkung reale physikalische Effekte richtig beschreibt. Im unserem derzeitigen Alltag spielt quantenmechanische Verschränkung zwar praktisch keine Rolle, aber dies könnte sich in Zukunft ändern, wenn Quantenkommunikation und Quantencomputer auch außerhalb von Forschungslaboren Anwendung finden.